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Eine Wanderung zur Geraer Hütte und der Alpeiner Scharte

20.09.2024

Anfang Juli 2024 unternahmen wir mit unseren Kindern eine besondere Wanderung, die uns nicht nur in die eindrucksvolle Natur der Tiroler Alpen führte, sondern auch tief in die Geschichte unserer Sektion. Unser Ziel war die Geraer Hütte, ein Ort, der eine reiche und gleichzeitig brutale Vergangenheit birgt.

Unser Aufstieg begann im Valser Tal, dessen landschaftliche Schönheit uns von Beginn an in ihren Bann zog. Gezeichnet von den Murenabgängen der vergangenen Jahre führt die Schotterstraße von der Touristenrast bis zur Talstation der Materialseilbahn der Hütte. Wer kann, sollte dies mit dem Mountainbike beschleunigen. Es folgt ein gut gehbarer, teilweise kräftig ansteigender Weg durch einen Kiefern- und Fichtenwald, der auch mal durch die ein oder andere Zirbe und Buche ergänzt wird. Ab etwa 1800 Höhenmetern erfolgt der Übergang zum Latschenkiefernbestand und Hochwiesen, die im satten Grün leuchten und mit einer hohen Anzahl von Alpenrosen übersät sind, die Anfang Juli noch in voller Blüte stehen. Der Duft der Alpenrosen mischte sich mit der frischen Bergluft, und die klare Luft machte den Aufstieg trotz der Anstrengung zu einem Erlebnis.

Nach etwa vier Stunden erreichten wir die auf 2326 Metern gelegene Geraer Hütte, die 1895 von unserer Sektion Gera des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins errichtet wurde. Die Hütte war damals ein Meisterwerk alpiner Architektur: eine Holzkonstruktion mit hochwertiger Ausstattung. Sie wurde schnell zu einem beliebten Ziel für Bergsteiger und Wanderer und dient bis heute als gutes Basislager zur Besteigung des Olperers.

Doch mit den politischen Veränderungen des 20. Jahrhunderts änderte sich auch das Schicksal der Hütte und ihrer Betreiber. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Sektion Gera, so wie alle Alpenvereinsstrukturen in der ehemaligen DDR, aufgelöst. 1956 übernahm die Sektion Landshut die Betreuung der Hütte, und 1972 wurde sie endgültig in deren Besitz überführt. Die Verbindung zwischen Hütte und unserer Sektion erlebte nach der Wiedergründung 1990 eine Neuauflage, nicht nur durch den Namen der Hütte, sondern auch durch den fortwährenden Austausch mit unseren Sektionsmitgliedern und dem Geraer Rutheneum. Dieser Austausch wird auch heute noch gepflegt und regelmäßig im Sektionsheft dokumentiert.

An unserem ersten Tag auf der Geraer Hütte erkundeten wir das Gelände um die Hütte, genossen die frühsommerliche Wärme – nachdem wir 10 Tage zuvor den Winter auf dem Rifugio Dodici Apostoli in der Brenta noch einmal miterleben durften – und den weiten Blick über das Valser Tal. Die Sonnenstrahlen wärmten unser Gesicht, und die Stille der Berge wurde nur vom Rauschen des Windes unterbrochen. Doch während wir die Ruhe genossen, war uns bewusst, dass diese Idylle auch eine andere, dunklere Geschichte verbirgt.

Am nächsten Morgen brachen wir früh auf, um die Alpeiner Scharte zu erreichen – einen historischen Ort, an dem in den Jahren 1943 bis 1945 ein ehrgeiziges, aber letztlich gescheitertes Projekt des Dritten Reichs stattfand: der Abbau von Molybdän, einem für die Rüstungsindustrie unverzichtbaren Metall. Der Weg von der Geraer Hütte zieht unmittelbar nach Überquerung eines Bachlaufs an und war Anfang Juli noch mit einer flächendeckenden Schneeschicht überzogen. Am schattigen Vormittag machten Steigeisen im vereisten Schnee noch Sinn, und wir erreichten schnell die ersten Fundamente des damaligen Bergschurfs. Die Entdeckung von Molybdän-Vorkommen unterhalb der Alpeiner Scharte im Jahr 1942 führte zur Einrichtung eines Bergwerks, das unter schwierigsten Bedingungen betrieben wurde. Die Geraer Hütte diente als Basislager für die Arbeiter, unter denen sich auch viele Zwangsarbeiter aus Russland und der Ukraine befanden. Ein Bericht aus dem Mai 1943 zeigt, dass 77 Arbeiter, darunter 30 Kriegsgefangene, unter extremen Bedingungen in einem Stollen arbeiteten, der bis auf eine Länge von 178,5 Metern vorangetrieben wurde. Ein weiterer Bericht vom Oktober 1943 verzeichnet 28 Kriegsgefangene und 24 ausländische Arbeiter, die bei der Untersuchung der Erzlagerstätte beschäftigt waren. Trotz dieser massiven Anstrengungen und der immensen technischen Herausforderungen konnte die Erzförderung aufgrund der geringen Erzführungen und der extremen Bedingungen nie begonnen werden. Der Einsatz von Zwangsarbeitern unter diesen Bedingungen war grausam. Die Zwangsarbeiter lebten und arbeiteten in menschenunwürdigen Verhältnissen. Sie mussten nicht nur mit der extremen Höhe und Kälte kämpfen, sondern auch mit mangelhafter Ausrüstung und schlechter Ernährung. Ein Lager wurde unmittelbar in der Nähe der oberen Seilbahnstation gebaut. Allein die Vorstellung, wie es gewesen sein muss, hier oben im eisigen Wind zu stehen, nicht als Wanderer, sondern als Zwangsarbeiter, ohne Hoffnung auf einen Rückweg lässt uns erschaudern.

Die Dokumente, die wir heute in den Archiven finden (u.a. Bundesarchiv Berlin, Bestand des Reichswirtschaftsministeriums), sprechen von den verzweifelten Versuchen, unter diesen Bedingungen das Bergwerk zu betreiben, und von den zahlreichen Rückschlägen – sowie einem großen Lawinenunglück im November 1944, das das Projekt schließlich zum Scheitern brachte. Die gigantische Materialseilbahn, die von der Alpeiner Scharte über die Hohe Kirche bis ins Valser Tal reichen sollte, wurde nie fertiggestellt. Geplante Erztransporte fanden nie statt. Diese Seilbahn sollte das Molybdän ins Tal bringen. Molybdän war ein wichtiger Zuschlagstoff für hitzeresistente Metallerzeugnisse. Unter anderem wurden die Triebwerkschaufeln der Messerschmitt Me 262, die in Kahla unterirdisch in großen Mengen gefertigt werden sollte, mit solchen Legierungen hergestellt. Doch trotz der strategischen Bedeutung und der immensen Anstrengungen war der Abbau des Erzes an der Alpeiner Scharte nicht erfolgreich, was den Produktionsmangel in der deutschen Rüstungsindustrie verschärfte.

Nachdem wir von den Überresten der alten Fundamente zum höchsten Punkt aufstiegen, entschieden wir uns jedoch, die Scharte nicht zu überschreiten, da ostseitig noch ein zu steiles Altschneefeld zu überqueren war. Das eigentliche Ziel des Tages, der Riepenkopf (2905m) war damit nicht mehr zu erreichen. Die Überquerung war selbst mit Steigeisen und Pickeln zu unsicher, und als Familie wollten wir kein Risiko eingehen. Stattdessen nutzten wir die Zeit, um uns die Überreste des Bergwerks noch genauer anzuschauen. Die Einsamkeit und die schneebedeckte Stille erinnerten uns daran, dass dieser Ort Zeuge von menschlichem Leid und einer tragischen Vergangenheit ist.

Nach einer letzten Nacht in der Geraer Hütte machten wir uns auf den Rückweg ins Tal. Der klare Himmel und die wärmende Sonne ließen den Tag in einem milden Licht erscheinen. Diese Berge, die uns heute als Ort der Erholung und des Abenteuers dienen, waren einst Schauplatz von Ausbeutung und Leid. Der Alpenverein war noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten Teil der völkisch - nationalistischen Propaganda und grenzte systematisch Jüdinnen und Juden sowie Andersdenkende aus. Damit trugen unsere Vorgänger letztendlich dazu bei, dass der dunkelste Zeitabschnitt der deutschen Geschichte geschehen konnte, mit der Folge von Leid, Elend, Tod und dem Ende des Sektionswesens in unserer Region. Daher sollte es auch unsere Aufgabe sein, diese Geschichte nicht zu vergessen!

Die Geraer Hütte und die Alpeiner Scharte sind nicht nur Teil der Landschaft, sondern auch Teil unserer Geschichte – einer Geschichte, die untrennbar mit der Sektion Gera und ihrer Verantwortung, an diese Vergangenheit zu erinnern, verbunden ist.

Familie Gleichmann